Der Phantasieplanet   Udo Reich

LESEPROBE

© EIGEN VERLAG 1994


      Ooch Mann!  Ich will aber nicht mit!" Jonathan war sauer Er hasste es, zu seiner Kusine fahren zu müssen.  Ausgerechnet jetzt, wo er las und es so spannend war.  Viel lieber würde er sein Buch weiterlesen.
 „Mensch Joni, bitte hör jetzt auf", schimpfte seine Mutter.  „Immer veranstaltest du ein solches Theater, wenn wir zu Onkel Herbert und Tante Margarete fahren."
Widerwillig legte Jonathan sein Buch beiseite und schlurfte hinter seiner Mutter her.  Ein ungehaltener, elfjähriger Junge, dem die dunkelbraunen, kurzen Haare etwas wirr zu Berge standen.  Das Auffälligste an seinem wirklich netten Jungengesicht waren seine Augen, die hellwach leuchteten.  Meist strahlte der Schalk aus ihnen, jetzt schauten sie finster.
 „Ich mag sie aber nicht!  Tante Margarete redet immer so viel und Onkel Herbert stinkt.  Und meine blöde Kusine mag ich auch nicht.  Die will immer nur mit ihren blöden Puppen spielen."
 „Jonathan, bitte!"  Dies sagte seine Mutter immer, wenn Jonathan sich so über die Verwandtschaft äußerte.  „Mensch, Werner!  Du könntest vielleicht auch mal was dazu sagen!" Sein Vater zuckte nur mit den Schultern.  Er stand in der Diele vor dem fleckigen Garderobenspiegel und versuchte nun zum dritten oder vierten Mal, seine Krawatte ordentlich zu binden.
 „Er hat doch eigentlich recht!" murmelte er endlich, ganz in seine Tätigkeit versunken.  Jonathans Mutter verzog das Gesicht.  Es war ihre Schwester, die sie besuchen wollten.
Jonathan betrachtete die Krawatte seines Vaters.  Sie war rot mit schwarzen Querstreifen.  Jedesmal, wenn sein Vater sie fertig gebunden hatte, dann saß entweder der Knoten nicht richtig, oder sie war viel zu kurz gebunden.  Ihm gefiel die kurze Version der Krawatte gut.  Der Clown im Zirkus, den sie letzte Woche mit der Schulklasse besucht hatten, der hatte auch so eine kurze, lustige Krawatte gehabt.  Sein Vater trug sehr selten einen Schlips.  Jonathan dachte daran, wie sein Vater wohl als Clown aussehen würde.  Mit dicker, roter Pappnase und weiß geschminktem Gesicht.  Der hatte soeben den Krawattenknoten wieder geöffnet, grinste seinen Sohn an und legte sich mit einem tiefen Seufzer den Schlips wieder um den Hals.  Er zögerte einen Moment, so als müsse er sich konzentrieren und schaute kurz wieder auf Jonathan, der ihn fasziniert beobachtete.
Jonathan stellte sich vor, wie sich die Krawatte in eine Schlange verwandelte.  Scheinbar träge hängt sie um den Hals seines Vaters.  Dann bewegt sie sich langsam höher.  Sie hält sich mit ihrem dünnen Schwanz an seiner Schulter fest, während sie langsam ihren breiten Kopf nach oben schiebt.  Sie umschlingt den Hals seines Vaters und scheint sich mit ihrem Schwanz zu verknäulen.  Dann öffnet sie ihr Maul, hakte ihren Kiefer aus und versucht den Kopf seines Vaters zu verschlingen.  Dabei zieht sie ihren Körper immer enger um seinen Hals um ihn zu erwürgen.
Jonathan war sofort klar, dass er seinen Vater retten mußte.  Er sprang vor und riss den Kopf der Schlange zurück.  Mit einem Ruck öffnete er ihre tödliche Umschlingung und verschaffte seinem Vater wieder Luft.
 „Lass meinen Papa los, du Schlangenvieh!" rief er, stolz auf seinen Spaß.  Sein Vater schien diesen Spaß aber nicht zu verstehen.
 „Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?  Endlich hab‘ ich das verdammte Ding vernünftig gebunden, dann kommst du und reißt sie mir vom Hals!"  Er schlug mit der flachen Hand auf Jonathans Finger, die immer noch das Ende der Krawatte hielten.
 „Lass endlich los, sonst kommen wir heute überhaupt nicht mehr weg!"
 „Aber die Schlange hätte dich fast erwürgt und gefressen!" protestierte Jonathan.
 „Schlange?  Du hast vielleicht eine blühende Phantasie!"  Ein leichtes Grienen umspielte seine Lippen als er die Krawatte erneut um seinen Hals legte.
 „Mensch Joni, was ist eigentlich in dich gefahren?  Wir sind doch sowieso schon spät dran!"  Rief seine Mutter.
Sein Vater band derweil den Schlips erneut.  Er war wirklich etwas eng gewesen, fuhr es ihm durch den Kopf.  Ich dachte schon, ich würde ersticken.  Endlich hatte er es geschafft.  Nach einem letzten skeptischen Blick wandte er sich vom Spiegel ab und schaute Jonathan an.
 „So, nun haben wir die Schlange gebändigt!" lachte er.
Seine Mutter rannte immer noch durch die Wohnung.  Sie war stets darauf bedacht, nichts zu vergessen.  Hatten sie auch das Gastgeschenk für Tante Margarete und Onkel Herbert?  Hatten sie die Regensachen eingepackt?  Und hatte sie vor allem ein frisches Hemd für Jonathan eingesteckt?  (Das hasste Jonathan ganz besonders.  Immer mußte sie ein frisches Hemd für ihn einpacken und es auch noch immer überall sagen, dass er sich so oft dreckig machte.)
 „Hannelore, nun komm endlich!" rief Jonathans Vater ungeduldig, während er Jonathan eine Hand um die Schulter legte.  „Du machst einen Aufstand, als ob wir für Wochen verreisen würden!  Dabei fahren wir doch nur für einen Nachmittag zu Herbert und Margarete." ....

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