Keine Besonderheiten!   Udo Reich

LESEPROBE

© EIGEN VERLAG 1994
Das Paket

Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur.  Es unterschied sich in nichts von den Tausenden anderen Paketen, wie sie die Postboten in aller Welt tagtäglich austragen.  Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis - eine ganz besondere...
Frank schloss die Wohnungstür und schaute auf das Paket in seinen Händen.  Es war recht groß und wog schwer in der Hand.  Er schaute auf den Absender: seine Freundin!
 "Hmh, sie schickt mir eigentlich schon lange keine Pakete mehr", murmelte er im Selbstgespräch und trug es in die Küche, wo er es vorsichtig auf dem Tisch abstellte.
Er betrachtete die Aufkleber: ‘NICHT WERFEN!' und ‘HANDLE WITH CARE!'   Außerdem stand da: ‘HIER OBEN!' und ‘NICHT STÜRZEN!'.
Irgend etwas war faul.  Er wußte noch nicht was, aber er wußte, dass er sich auf seinen sechsten Sinn immer verlassen konnte.
Zunächst fiel ihm auf, dass dieses Paket viel zu ordentlich verpackt war, um von seiner Freundin zu kommen.  Wenn sie etwas verpackte, dann nahm sie buntes Packpapier oder alte Zeitungen.  Meist war die Verpackung selber eine Botschaft.  So hatte sie beispielsweise einmal ein Geschenk für ihn in einen alten Rock von ihr eingepackt.  Irgend etwas ließ sie sich immer einfallen.  Aber sie würde niemals ein Paket für ihn, so simpel und schmucklos verpacken.  Niemals!  Außerdem waren Anschrift und Absender auf Computeretiketten gedruckt.  Seine Freundin schrieb so etwas mit der Hand!  Dieses Paket kam in Wirklichkeit nicht von seiner Freundin, dessen war er sich sicher!
Nur, von wem war es dann?
Leider konnte er seine Freundin nicht anrufen, um sich endgültige Gewissheit zu verschaffen.  Sie war nicht zu Hause.  Sie war an diesem Wochenende auf einen Kurztrip nach London geflogen.
Er setzte sich auf einen Stuhl und starrte auf das unscheinbare Paket. 
Plötzlich kam ihm der entscheidende Gedanke:
Schulze!
Schulze ist extrem sauer, dass ich ihm den Posten als Abteilungsleiter vor der Nase weggeschnappt habe, dachte er.
Nur, woher hat er die Anschrift von meiner Freundin?
Dann fiel ihm ein, dass er Schulze in letzter Zeit öfters mit Frau Kernmann aus der Personalabteilung gesehen hatte.  Die Personalabteilung hatte von jedem Angestellten die Anschrift eines nahen Angehörigen oder des Lebenspartners, falls etwas passierte.
Und Frank war sich nun sicher, dass etwas passieren würde, wenn er dieses Paket einfach so öffnete.
Er wandte sich um und griff nach der Kaffeekanne, die auf der Arbeitsplatte seiner kleinen Küche stand.  Er goß sich einen Kaffee ein und drehte sich wieder um.  Es war sehr eng in seiner Küche.  So eng, dass er während der Drehung mit dem Ellbogen an das Paket stieß.  Er hörte ein metallisches Klicken und ihm wurde ganz heiß.  Blitzschnell zuckte er zurück.  Dabei vergoß er den heißen Kaffee und verbrühte sich die Hand.  Fluchend stellte er die Tasse beiseite und eilte zum Spülbecken, um sich kaltes Wasser über seine Finger laufen zu lassen.  Dabei betrachtete er argwöhnisch das Paket.
Was sollte er tun?
Was würde er wohl darin finden?
Er war sich nun ganz sicher, dass es von Schulze kam und nicht von seiner Freundin!  Schulze hatte allen Grund, mächtig sauer auf ihn zu sein.  Nur was schickte er ihm?
Irgendeine Sauerei?  Möglich!  Eine Bombe?  Unwahrscheinlich, oder?
Zuzutrauen wäre es ihm, dachte er.  Schließlich hatte Schulze sich ja vor kurzem damit gebrüstet, dass er durchaus jemanden umbringen könnte, wenn es sein müßte!
Aber woher sollte er den Sprengstoff haben?
Moment!
Schulze hatte einen Bruder.  Hatte er nicht beim letzten Betriebsfest erwähnt, dass sein Bruder in einem Steinbruch arbeitete?  Als Vorarbeiter oder sogar als - Sprengmeister?!
Was tun?  Die Polizei rufen?
Und wenn es keine Bombe ist?
Was für eine Blamage!
Also, was tun?
Das Paket vom Boden aus öffnen!
Er stellte seine Kaffeetasse beiseite und räumte schnell die Reste seines Frühstücks vom Tisch.  Er würde Platz brauchen.  Vorsichtig ergriff er das Paket, drehte es langsam um und legte es auf die Mitte seines Küchentischs.  ‘Wenn nun ein Neigungszünder darin ist?'  schoß es ihm durch den Kopf.  Doch dann beruhigte er sich wieder.  Schließlich ging die Post ja selbst mit solchen Paketen nicht so vorsichtig um.  Nein, ein Neigungszünder schied aus.  Ebensowenig konnte es ein Erschütterungszünder sein.  Es war sicher ein Abreißzünder, mit dem Deckel gekoppelt!
Er hielt inne und blickte sich um.  Dann lief er zielstrebig durch seine Wohnung.  Er suchte alle Kissen und Decken zusammen, die er finden konnte.  Damit polsterte er das Paket von allen Seiten ab um im Falle eines Falles zumindest ein wenig Schutz zu haben.  Dann holte er sich seinen Werkzeugkasten und legte verschiedene Werkzeuge ordentlich auf seine Arbeitsplatte.
Er würde es Schulze schon zeigen, dachte er grimmig.  Er würde ihm die entschärften Reste seiner Bombe vor die Füße schmeißen und ihn auffordern zu kündigen!  Diesen Triumph würde er bis zur Neige auskosten!
Er griff nach einem Teppichmesser und zerschnitt damit zunächst die Doppelkordel.
Zing!
Die, unter Spannung stehenden, Schnurenden sprangen heftig auseinander, nachdem die letzte Faser zertrennt war.  Er erschrak und auf seine Stirn waren dicke Schweißperlen getreten.  Einige tropften auf das Paket und hinterließen dunkle Kränze auf dem Packpapier.
Verdammt!  Das durfte nicht noch einmal passieren, schalt er sich.
Sehr vorsichtig schnitt er nun das Packpapier des Bodens auf und befestigte es an den Rändern mit Klebestreifen, um es an allen anderen Seiten des Pakets, unter Spannung zu halten.
Er brauchte fast eine halbe Stunde dafür.
Er holte tief Luft, um seine zitternden Hände etwas zu beruhigen, bevor er den Boden des Pakets vorsichtig öffnete.  Das Schneidegeräusch des Messers erschien ihm überlaut.  Er war sich sicher, dass er dieses Geräusch nie mehr vergessen würde.  Vielleicht hatte er ja auch nicht mehr viel Zeit, sich daran zu erinnern?  Sich an irgend etwas zu erinnern!
Er gestand sich ein, furchtbare Angst zu haben.  Sollte er aufgeben?
Dann sah er im Geiste Schulze, wie er höhnisch grinste, und machte entschlossen weiter.
Er entfernte vorsichtig den dicken Pappboden.
Da! Metall!
Ich werde es Schulze schon zeigen!
Ganz vorsichtig freilegen!
Der Metallboden ließ sich anheben.
Mit einem langen Schraubenzieher fuhr er ganz vorsichtig unter der Metallplatte hin und her.
Keine Drähte!
Er hob die Metallplatte langsam aus dem Paket und darunter kam eine hellbeige Masse zum Vorschein.
Sprengstoff!
Er hatte einmal irgendwo gelesen, dass man den Sprengstoff TNT nicht nur an der hellbeigen Farbe, sondern auch daran erkennen könne, dass er einen leichten Marzipangeschmack habe.  Er griff sich einen Löffel, kratzte vorsichtig etwas davon ab und probierte.
Marzipan, tatsächlich!
Zügig entfernte er den Sprengstoff mit dem Löffel und häufte ihn auf seiner Arbeitsplatte auf.
Darunter war eine Plastikverkleidung.  Vermutlich die Verdämmung, dachte er.
Darunter wiederum befand sich sicher die Zündvorrichtung!
Er versuchte, die Verkleidung aus dem Paket zu ziehen.  Es gelang ganz leicht.
Darunter lag ein Brief.
Er entnahm ihn und schaute ihn sich genau an.
 ‘Für meinen Schatz' stand darauf.
Er erkannte die Handschrift seiner Freundin.
Im Umschlag war eine Glückwunschkarte.
 ‘Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung Herr Abteilungsleiter!' stand darin und sie war mit ‘Ich liebe dich, Deine Eva!' unterschrieben.

Frank nahm den Löffel erneut und tauchte ihn in den Haufen auf seiner Arbeitsplatte.
Marzipan, wirklich!  Und es schmeckte vorzüglich.
 ‘Hat sie sicher selber gebacken, die Gute', dachte er und entfernte sich ein Stückchen Pappe aus dem Mund, welches zwischen seine Zähne geraten war.

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